Die vergessene Kunst des einfachen Prozessmanagements

Kalligraphie der Klarheit
Mit Schablone und Bleistift entstanden einst klare Prozesslandkarten - heute verlieren sich Organisationen im Dschungel überkomplizierter Tools. Warum die Rückbesinnung auf die handwerklichen Grundlagen einer simplen Bestandsaufnahme der Schlüssel für die erfolgreiche Einführung von Prozessmanagement ist.
Eine Hand zeichnet ein Flussdiagramm mit Pinsel und Tusche auf Papier, daneben Schreibutensilien.

Die vergessene Kunst des einfachen Prozessmanagements

von Andreas Ledermüller · Prozessmanagement-Coach · Lesezeit 10 Min
Während Prozessmanagement-Experten über BPMN-Gateways und Process Intelligence diskutieren, wissen viele Unternehmen noch nicht einmal, welche Prozesse sie haben. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, warum jede Einführung von Prozessmanagement mit einer simplen Inventur beginnt - und nicht mit Process Mining.

Back to the roots

Erinnerung an den Ursprung: Schablone, Bleistift und klare Gedanken

Ich sehe noch das durchscheinende Papier vor mir, auf dem ich mit einer simplen Flussdiagramm-Schablone und einem gespitzten Bleistift meine ersten Prozessschritte skizzierte. Rechtecke für Aktivitäten, Rauten für Entscheidungen, Kreise für Start und Ende. Mehr brauchte es nicht, um die Logik eines Geschäftsablaufs sichtbar zu machen. Die Kunst lag nicht in der Perfektion der Notation, sondern im Verstehen dessen, was wirklich passierte.
Diese Zeit scheint Lichtjahre entfernt von der heutigen Prozessmanagement-Landschaft. Wo früher ein einzelner Mensch mit einfachsten Mitteln Klarheit in komplexe Abläufe brachte, dominieren heute Multi-Tool-Landschaften, KI-basierte Process-Mining-Plattformen und BPMN-Diagramme, die aussehen wie Schaltpläne von Raumstationen.
Sie kennen das Gefühl: Sie sitzen in einem Prozessmanagement-Workshop, der Berater erklärt die Unterschiede zwischen exklusiven und inklusiven Gateways, während Sie innerlich denken: "Wir wissen noch nicht mal, wer bei uns eigentlich was macht." Die Diskussion dreht sich um RPA-Integration und Process Intelligence, dabei haben Sie noch nie eine vollständige Liste Ihrer kritischen Geschäftsprozesse gesehen.
Willkommen in der Welt des überkomplizierten Prozessmanagements – einer Welt, die ihre eigenen Grundlagen vergessen hat.

Die schleichende Entfremdung

Wie Prozessmanagement seine Seele verlor

Die Entwicklung ist symptomatisch für viele Fachdisziplinen: Was einst aus praktischer Notwendigkeit entstanden ist, wird zunehmend von akademischen Theorien und technologischen Möglichkeiten dominiert. Prozessmanagement hat sich von einem handwerklichen Problem-Lösungsansatz zu einer hochspezialisierten Expertendomäne entwickelt.
Die LinkedIn-Realität spiegelt diese Entwicklung perfekt wider: Posts über die neuesten KI-Features in Prozessmanagement-Tools erhalten hunderte Likes, während grundlegende Fragen zur Prozessidentifikation und -abgrenzung im digitalen Rauschen untergehen. Hyperautomation wird als Allheilmittel gepriesen, obwohl die meisten Organisationen noch nicht mal wissen, welche Daten sie überhaupt haben.
Diese Entwicklung führt zu einer paradoxen Situation: Je ausgefeilter die verfügbaren Methoden werden, desto weiter entfernen sich die Experten von der Realität ihrer Zielgruppe. Die Folge ist eine wachsende Kluft zwischen dem, was Prozessmanagement-Consultants anbieten, und dem, was Organisationen tatsächlich benötigen.
Jahre an Beratungspraxis offenbaren immer wieder dasselbe Muster: Unternehmen investieren in sophisticated Tools und Methoden, während grundlegende prozessuale Hausaufgaben ungemacht bleiben. Sie automatisieren chaotische Abläufe, anstatt zuerst Klarheit über diese Abläufe zu schaffen. Sie implementieren Process Discovery Software, obwohl sie noch keine systematische Prozessdokumentation haben.

Voraussetzungs-Hierarchie: Warum Fundamente unersetzlich sind

Die moderne Prozessmanagement-Community leidet unter einem fundamentalen Denkfehler: Sie verwechselt technologische Möglichkeiten mit praktischen Voraussetzungen. Process Discovery ist brillant – aber nur, wenn verstanden wird, welche Prozesse entdeckt werden sollen. Workflow Automation ist hocheffizient – aber nur, wenn die zu automatisierenden Prozesse stabil und dokumentiert sind.
Stufe 1: Prozess-Bewusstsein schaffen Bevor über Optimierung oder Automatisierung nachgedacht werden kann, muss grundlegendes Prozess-Bewusstsein entstehen. Das bedeutet: Die Organisation muss verstehen, dass sie überhaupt Prozesse hat. Dieser Schritt klingt trivial, ist aber in der Praxis oft die größte Hürde.
Die Inventur-Phase – jene "primitive" Bestandsaufnahme, die von Prozessmanagement-Experten oft belächelt wird – ist systemisch unverzichtbar. Wie die Schablone und der Bleistift von damals schafft sie Verständnis ohne Verwirrung. Sie beantwortet die grundlegenden Fragen: Was machen wir? Wer macht es? Wie hängt es zusammen?
Stufe 2: Prozess-Grenzen definieren Wo beginnt ein Prozess, wo endet er? Diese scheinbar simple Frage entscheidet über Erfolg oder Scheitern aller nachfolgenden Aktivitäten. Die klassischen Grundformen – sequentielle Abläufe, Schleifen, parallele Pfade, exklusive und inklusive Verzweigungen – sind nicht veraltet, sondern zeitlos. Sie sind die Grammatik des Prozessdenkens.
Ein Prozess ohne klare Abgrenzung ist wie ein Satz ohne Punkt – unvollständig und verwirrend. Die alten Schablonen-Symbole zwangen zur Klarheit: Ist das eine Entscheidung oder eine Aktivität? Ist das eine parallele oder eine alternative Verzweigung? Diese Präzision ist heute wichtiger denn je, wird aber von der Tool-Komplexität oft verschüttet.
Stufe 3: Prozess-Logik verstehen Erst wenn Bewusstsein und Grenzen geklärt sind, kann über die interne Logik von Prozessen nachgedacht werden. Warum passiert Schritt A vor Schritt B? Welche Informationen werden benötigt? Welche Entscheidungen getroffen? Die fundamentalen Fragen des Prozessmanagements haben sich seit Jahrzehnten nicht geändert – nur die Antworten sind komplexer geworden. Aber komplexe Antworten erfordern solide Grundlagen, nicht ausgefeiltere Fragestellungen.

Die "Wofür"-Frage: Der vergessene Kompass

"Wofür machen wir Prozessmanagement?" – Diese Frage wird in der heutigen Methodendiskussion systematisch ausgeklammert. Stattdessen dominiert die "Wie"-Frage: Wie modellieren wir in BPMN 2.0? Wie implementieren wir Process Intelligence? Wie integrieren wir Low-Code-Plattformen?
Die Antwort auf das "Wofür" aber entscheidet darüber, ob Prozessmanagement Wertschöpfung oder Selbstzweck wird.
Wofür Compliance? Um regulatorische Risiken zu minimieren – nicht um perfekte Audit-Trails zu dokumentieren
Wofür Effizienz? Um Ressourcen zu schonen – nicht um Durchlaufzeiten auf die Millisekunde zu messen
Wofür Qualität? Um Kundenzufriedenheit zu steigern – nicht um ISO-konforme Handbücher zu erstellen
Wofür Digitalisierung? Um menschliche Kapazitäten für wertschöpfende Tätigkeiten freizusetzen – nicht um Technologie zu demonstrieren
Das Zweck-Mittel-Paradox
Je ausgefeilter die verfügbaren Mittel werden, desto mehr besteht die Gefahr, dass sie zum Selbstzweck werden. Process Mining wird nicht betrieben, um Prozesse zu verbessern, sondern um Process Mining zu betreiben. BPMN wird nicht verwendet, um Klarheit zu schaffen, sondern um BPMN-konforme Diagramme zu erstellen.
Die Rückbesinnung auf einfache Grundlagen wirkt als natürlicher Korrektor dieses Paradoxes. Schablone und Bleistift haben keinen Eigenwert – sie sind ausschließlich Mittel zum Zweck der Klarheitsschaffung.
Diese instrumentelle Klarheit ist heute wichtiger denn je.

Die Renaissance des Einfachen Praktische Rückkehr zu bewährten Grundsätzen

Die Rückkehr zu den Wurzeln bedeutet nicht den Verzicht auf moderne Möglichkeiten, sondern ihre sinnvolle Integration in ein solides Fundament. Evolutionäre Entwicklung statt revolutionärer Sprünge.
Grundsatz 1: Verstehen vor Optimieren Bevor ein Prozess verbessert werden kann, muss er verstanden werden. Bevor er verstanden werden kann, muss er sichtbar gemacht werden. Bevor er sichtbar gemacht werden kann, muss er identifiziert werden.
Diese Reihenfolge ist unverhandelbar – auch im Zeitalter von Artificial Intelligence und Machine Learning.
Die moderne Tendenz, Schritte zu überspringen ("Warum dokumentieren, wenn wir direkt automatisieren können?"), führt systematisch zu suboptimalen Ergebnissen. Process Mining ohne Prozessverständnis ist wie Röntgen ohne anatomische Grundkenntnisse – die Bilder sind scharf, aber uninterpretierbar.
Grundsatz 2: Einfachheit als Komplexitäts-Management Komplexe Systeme entstehen aus einfachen Bausteinen, nicht aus komplizierten Ausgangskonstruktionen. Die klassischen Prozessbausteine – sequentielle Schritte, Verzweigungen, Schleifen, Parallelisierungen – sind deshalb so mächtig, weil sie kombinierbar und skalierbar sind.
Eine Organisation, die diese Grundbausteine beherrscht, kann beliebig komplexe Prozesslandschaften entwickeln und verstehen. Eine Organisation, die mit komplexen Notationen beginnt, verliert sich in methodischer Verwirrung, noch bevor sie zur eigentlichen Prozessarbeit kommt.
Grundsatz 3: Iteration vor Perfektion Die Schablone-und-Bleistift-Ära hatte einen entscheidenden Vorteil: Verbesserung war einfacher als Neuerstellung. Ein radiergummierter und überarbeiteter Entwurf war normal und akzeptiert. Moderne Tool-Landschaften verführen zur Perfektionierung erster Entwürfe, weil nachträgliche Änderungen aufwendig sind.
Prozessmanagement ist ein iterativer Lernprozess, kein einmaliges Konstruktionsprojekt. Die wertvollsten Erkenntnisse entstehen nicht in der ersten Dokumentationsrunde, sondern in der dritten oder vierten Überarbeitung. Tools und Methoden sollten Iteration fördern, nicht behindern.

Die Integration: Alte Weisheit, neue Möglichkeiten

Die Renaissance des einfachen Prozessmanagements bedeutet nicht den Verzicht auf moderne Entwicklungen, sondern ihre systematische Integration in bewährte Grundprinzipien.
Evolutionspfad: Vom Fundament zur Spitze
Phase 1: Manuelle Inventur – Mit einfachsten Mitteln (durchaus digital, aber methodisch einfach) wird Klarheit über vorhandene Prozesse geschaffen. Die Frage ist nicht: "Wie modellieren wir perfekt?", sondern: "Was passiert überhaupt?"
Phase 2: Systematische Dokumentation – Die inventarisierten Prozesse werden strukturiert dokumentiert. Hier können moderne Tools helfen, aber die Dokumentationslogik folgt klassischen Prinzipien: Input, Verarbeitung, Output, Verantwortlichkeiten, Schnittstellen.
Phase 3: Kontext-spezifische Anreicherung – Die Basisdokumentation wird je nach Zielsetzung angereichert: Compliance-Aspekte, Effizienz-Metriken, Qualitäts-Kontrollpunkte, Risiko-Bewertungen. Aber immer aufbauend auf dem soliden Fundament.
Phase 4: Technologische Optimierung – Erst jetzt kommen Process Analytics, Workflow Automation, Machine Learning-basierte Optimierung zum Einsatz. Aber sie operieren auf der Basis eines verstandenen und dokumentierten Systems, nicht im methodischen Vakuum.
Die Technologie als Verstärker, nicht als Ersatz Process Mining wird mächtig, wenn es auf systematisch dokumentierte Prozesse angewendet wird. Es kann Abweichungen zwischen Soll und Ist sichtbar machen – aber nur, wenn das Soll klar definiert ist.
Workflow Automation wird wertvoll, wenn es stabile, wiederholbare Prozesse automatisiert. Aber Stabilität entsteht nicht durch Automatisierung, sondern durch systematisches Prozessdesign.
Cognitive Computing kann revolutionäre Verbesserungen bringen – aber nur in Organisationen, die ihre Prozesse verstehen und systematisch entwickelt haben.

Das Manifest der prozessualen Rückbesinnung

Prozessmanagement ist Handwerk, nicht Wissenschaft. Wie jedes Handwerk hat es bewährte Grundtechniken, die beherrscht werden müssen, bevor Spezialisierung sinnvoll ist. Wie jedes gute Handwerk entwickelt es sich weiter – aber immer aufbauend auf soliden Fundamenten.
Die fünf Grundsätze der prozessualen Rückbesinnung: 1. Sichtbarkeit vor Optimierung – Was nicht verstanden ist, kann nicht sinnvoll verbessert werden 2. Einfachheit vor Perfektion – Ein einfaches System, das funktioniert, ist einem perfekten System überlegen, das niemand versteht 3. Iteration vor Finalität – Prozessmanagement ist ein Lernprozess, kein Konstruktionsprojekt 4. Zweck vor Methode – Die Frage "Wofür?" muss beantwortet werden, bevor über das "Wie?" nachgedacht wird 5. Fundament vor Technologie – Tools verstärken gute Grundlagen, sie können sie aber nicht ersetzen Der Mut zur bewussten Einfachheit Es braucht heute Mut, einfach zu beginnen. Mut, im Zeitalter von Process Intelligence Suiten mit Schablone und Bleistift oder ihren modernen Äquivalenten zu starten. Mut, beim Vorherrschen der BPMN-2.0-Orthodoxie mit grundlegenden Fragen zu beginnen: "Was machen wir eigentlich?"
Diese scheinbare Rückständigkeit ist in Wahrheit methodische Avantgarde. Organisationen, die ihre prozessualen Grundlagen beherrschen, sind den technologisch überfütterten Konkurrenten systematisch überlegen. Sie können neue Technologien sinnvoll integrieren, weil sie verstehen, wofür sie sie benötigen. Sie können komplexe Herausforderungen bewältigen, weil sie die einfachen Bausteine beherrschen.

Die Rückkehr zur Essenz

Die vergessene Kunst des einfachen Prozessmanagements ist nicht nostalgische Verklärung, sondern praktische Notwendigkeit. Dort, wo Komplexität zunimmt, wird die Fähigkeit zur systematischen Vereinfachung zum Wettbewerbsvorteil.
Die Schablone und der Bleistift von damals waren nicht primitive Hilfsmittel, sondern Konzentrate des Wesentlichen. Sie zwangen zur Klarheit, weil sie keine Verwirrung zuließen. Sie förderten das Verstehen, weil sie kein Verstecken ermöglichten.
Diese handwerkliche Meisterschaft ist übertragbar. Nicht als nostalgische Rückkehr zu analogen Zeiten, sondern als bewusste methodische Entscheidung für das Wesentliche. Process Intelligence, Hyperautomation und Cognitive Computing sind mächtige Werkzeuge – aber sie entfalten ihre Macht nur in den Händen von Menschen, die die Grundlagen des Prozessdenkens beherrschen.
Die Renaissance des einfachen Prozessmanagements beginnt mit der einfachen Erkenntnis:
Bevor wir Prozesse intelligent machen können, müssen wir sie verstehen. Bevor wir sie verstehen können, müssen wir sie erkennen. Und das Erkennen beginnt mit dem ersten, bewusst einfachen Schritt.
Prozesse und Sicherheit sind keine Optionen Sie sind der Preis für funktionierende Unternehmen

Inventarisieren Sie Ihre Prozesse

Wenn Sie wirklich wissen wollen, welche Prozess in Ihrem Unternehmen existieren oder wie Sie die Lücke zwischen Prozessmanagement, Cybersicherheit und Notfallkonzepten schließen können, dann lassen Sie uns gemeinsam prüfen, ob Ihre Dokumentation dem Ernstfall standhält - bevor es zu spät ist.
Digitale Demenz im Unternehmen

Digitale Demenz

Beim Menschen beschreibt Demenz den fortschreitenden Verlust an Erinnerungen, Orientierung und Entscheidungsfähigkeit. Oft schleichend, erst kaum wahrnehmbar – bis der Moment kommt, in dem nichts mehr funktioniert. In Organisationen sieht das nicht anders aus.
Viele Menschen angeln mit Angelruten von einer belebten Brücke, im Hintergrund eine Stadtkulisse.

Bei uns gibt es nicht zu holen

Der gefährlichste Mythos im Mittelstand: "Uns greift niemand an - wir sind zu klein" Während Unternehmer in der Annahme leben, für Cyberkriminelle uninteressant zu sein, scannen automatisierte Systeme längst ihre Netzwerke.Das Problem: Moderne Cyberangriffe funktionieren nicht nach dem Prinzip "David gegen Goliath", sondern wie industrielle Fischerei Das Netz wird ausgeworfen, was reingeht wird verwertet.
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