Bei uns gibt es nichts zu holen

Der gefährlichste Mythos im Mittelstand: "Uns greift niemand an - wir sind zu klein" Während Unternehmer in der Annahme leben, für Cyberkriminelle uninteressant zu sein, scannen automatisierte Systeme längst ihre Netzwerke.
Männer angeln mit vielen Ruten auf einer belebten Brücke, im Hintergrund eine Stadt.

Der gefährlichste Mythos im Mittelstand: "Uns greift niemand an - wir sind zu klein"

von Andreas Ledermüller · Prozessmanagement-Coach · Lesezeit 10 Min
Executive-Preview
„Bei uns gibt es nichts zu holen" – dieser Satz kostet deutsche Mittelständler Millionen. Während Unternehmer in der Annahme leben, für Cyberkriminelle uninteressant zu sein, scannen automatisierte Systeme längst ihre Netzwerke.
Das Problem: Moderne Cyberangriffe funktionieren nicht nach dem Prinzip "David gegen Goliath", sondern wie industrielle Fischerei – mit großen Netzen und allem, was hineingerät. In diesem Beitrag erklären ich, warum Unternehmensgröße für die meisten Angriffe irrelevant ist, wie die Realität automatisierter Cyberkriminalität aussieht und warum das Denken in "Attraktivität" der falsche Ansatz ist.

Das teure Missverständnis

Ein Maschinenbauunternehmen aus dem Rheinland, 35 Mitarbeiter, Familientradition seit drei Generationen. Der Geschäftsführer: „Wer soll uns denn angreifen? Wir stellen Spezialteile her, kennt doch keiner."
Drei Monate später: Verschlüsselungstrojaner legt die komplette Produktion lahm. Lösegeldforderung: 50.000 Euro. Produktionsausfall: Eine Woche. Gesamtschaden: Über 200.000 Euro.
Der Angreifer? Ein automatisiertes System aus Osteuropa, das systematisch deutsche IP-Bereiche auf Schwachstellen scannt. Keine Recherche, kein gezieltes Interesse – purer Zufall.
Die Realität: 43% aller Cyberangriffe in Deutschland treffen Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern. Nicht obwohl, sondern weil sie glauben, unattraktiv zu sein.

Der fundamentale Denkfehler

Viele Menschen denken bei Cyberangriffen oft an Hollywood-Szenarien: Geniale Hacker, die gezielt große Konzerne ins Visier nehmen, um Industriegeheimnisse zu stehlen oder spektakuläre Sabotage zu betreiben.
Diese Vorstellung führt zu einem verhängnisvollen Trugschluss. Dem Mythos: "Cyberkriminelle wählen ihre Ziele gezielt aus – wir sind zu klein/unbekannt/unwichtig."
Die Realität: 95% aller Cyberangriffe auf den Mittelstand sind automatisiert und ungezielt. Sie funktionieren nach dem - Prinzip der industriellen Fischerei: Das Netz wird ausgeworfen, was reingeht wird verwertet.

Wie moderne Cyberangriffe wirklich funktionieren

Das Geschäftsmodell der Cyberkriminellen

Betrachten wir zwei verschiedene Ansätze eines Fahrraddiebstahls in einer Stadt.
Ansatz A (gezielt): Ein Dieb recherchiert wochenlang, welche Person das teuerste Fahrrad besitzt, wo sie wohnt, wann sie nicht da ist. Aufwand hoch, Ertrag unsicher.
Ansatz B (automatisiert): Eine kriminelle Person geht mit einem Bolzenschneider durch die Stadt und testet systematisch jedes Fahrradschloss. Was sich schnell öffnen lässt, wird mitgenommen. Aufwand niedrig, Ertrag planbar.
Genau nach diesem zweiten Prinzip arbeiten moderne Cyberkriminelle: 1. Automatisierte Scanner durchkämmen täglich Millionen von IP-Adressen 2. Vulnerability-Checks testen auf bekannte Schwachstellen 3. Standardangriffe werden gegen alle verwundbaren Systeme gefahren 4. Erfolgreiche Einbrüche werden monetarisiert – unabhängig von der Unternehmensgröße Die Mathematik des Verbrechens Ein einzelner Cyberkrimineller kann mit automatisierten Tools täglich Zehntausende Unternehmen scannen. Die Kosten pro Angriffsversuch: Nahezu null. Der Ertrag: Bereits ein erfolgreicher Einbruch pro tausend Versuchen macht das "Geschäft" profitabel.
Beispiel aus der Praxis: Ein Ransomware-Netzwerk scannt täglich 50.000 deutsche Unternehmen auf veraltete Windows-Versionen. Erfolgsquote: 0,1%. Das sind trotzdem 50 erfolgreiche Angriffe täglich – bei minimalem Aufwand.

Bildschirmansicht eines Cybersecurity-Dashboards mit Weltkarte, Alarmstatistiken und Telekom-Logo.
Bildquelle: Telekom Sicherheitstacho Momentaufnahme 23.08.25 um 07:47:32 (33.473 Alarme innerhalb von 60 Sekunden ausgelöst)

Was Cyberkriminelle wirklich interessiert

Nicht die Unternehmensgröße, sondern die Angriffsfläche
Cyberkriminelle fragen nicht: "Ist das ein wichtiges Unternehmen?" Sie fragen: "Ist das ein verwundbares System?"
Attraktive Ziele für automatisierte Angriffe: Veraltete Software: Ungepatchte Systeme mit bekannten Schwachstellen • Standard-Passwörter: Admin/admin, 123456, Firmenname • Offene Ports: Ungesicherte Fernzugänge, RDP-Verbindungen • Schwache E-Mail-Security: Keine Spam-Filter, ungeschulte Mitarbeiter
Der Mittelstandsvorteil wird zum Nachteil Kleine und mittlere Unternehmen sind oft attraktiver als Konzerne: • Weniger IT-Security-Budget: Günstigere oder veraltete Schutzmaßnahmen • Weniger spezialisiertes Personal: Keine dedizierten IT-Sicherheitsexperten • Weniger komplexe Infrastruktur: Einfacher zu kompromittieren • Höhere Zahlungsbereitschaft: Existenzbedrohung führt zu schnelleren Lösegeldzahlungen

Die Realität in Zahlen

Das Bundeskriminalamt verzeichnete 2024 bundesweit 950 angezeigte Ransomware-Fälle. Besonders alarmierend: 80% der betroffenen Unternehmen sind kleine und mittlere Betriebe.
Die European Union Agency for Cybersecurity bestätigt: 60% aller Cyberangriffe in Deutschland treffen den Mittelstand. 2017 wurden 34% der deutschen KMU innerhalb eines Jahres Opfer von Ransomware-Angriffen. Der Schaden durch Cybercrime stieg 2024 auf 178,6 Milliarden Euro – 30 Milliarden mehr als im Vorjahr.
Bei 21% der betroffenen Unternehmen musste sofort die Geschäftstätigkeit eingestellt werden.
Die erschreckende Dunkelziffer: Laut Bundeskriminalamt gelangen Cyberstraftaten nur in einem von zehn Fällen zur Anzeige bei den Behörden.
Das bedeutet: Die realen Zahlen sind zehnmal höher als die offiziellen Statistiken. Viele Unternehmen zahlen lieber heimlich Lösegeld, als einen Reputationsschaden zu riskieren.
Liste der Top-Cyberangriffe Deutschland 2025/2024 mit Suchfeld und Tabelle von Angriffen nach Datum, Ort und Unternehmen.
Bildquelle: https://konbriefing.com/ (Momentaufnahme 23.08.25)

Die versteckten Kosten des Mythos

Wer glaubt, zu klein für Angriffe zu sein:Investiert nicht in Prävention: "Brauchen wir nicht" • Schult Mitarbeiter nicht: "Passiert uns eh nicht" • Plant keine Notfälle: "Wozu, wir sind doch kein Ziel" • Dokumentiert Prozesse nicht: "Bei einem Angriff helfen die eh nicht" Im Schadensfall führt das zu:Längeren Ausfallzeiten: Weil Notfallpläne fehlen • Höheren Wiederherstellungskosten: Weil Backups ungetestet sind • Größeren Datenverlusten: Weil Sicherungen nicht funktionieren • Schwereren Reputationsschäden: Weil Kommunikation nicht vorbereitet ist

Der Perspektivwechsel

Sie sind bereits im Visier - was sie schnellstmöglich tun sollten

Falsche Frage: "Warum sollte uns jemand angreifen?" Richtige Frage: "Wie können wir Angriffe abwehren, wenn sie kommen?"
Falsches Denken: "Wir sind unattraktiv für Hacker." Richtiges Denken: "Wir sind verwundbar wie jeder andere auch."
Praktische Sofortmaßnahmen für Ihr Unternehmen Phase 1 – Grundschutz (erste 30 Tage): • Alle Systeme auf aktuelle Patches prüfen und updaten! • Standard-Passwörter ändern, komplexe Passwort-Richtlinie einführen • E-Mail-Security verschärfen, Anti-Spam-Filter aktivieren • Backup-Strategie testen (nicht nur erstellen, sondern Wiederherstellung üben)
Phase 2 – Sensibilisierung (30-90 Tage): • Mitarbeiter über aktuelle Angriffsmethoden informieren • Phishing-Tests durchführen (intern oder extern) • Notfall-Kommunikationspläne erstellen • Wichtige Systeme und Daten identifizieren
Phase 3 – Professionalisierung (ab 90 Tagen): • Professionelle Sicherheitsüberprüfung beauftragen • Incident-Response-Pläne entwickeln und testen • Regelmäßige Sicherheitstrainings etablieren • Cyber-Versicherung prüfen und anpassen

Weckducken hilft nicht

Die Größe Ihres Unternehmens schützt Sie nicht vor Cyberangriffen – im Gegenteil, sie kann Sie zu einem attraktiveren Ziel machen. Cyberkriminelle arbeiten industriell und automatisiert. Sie suchen nicht nach den größten Fischen, sondern nach den schwächsten Gliedern in der Kette.
Die gute Nachricht: Wenn Sie verstehen, dass Angriffe zufällig und automatisiert ablaufen, können Sie sich systematisch davor schützen. Nicht durch Verstecken, sondern durch intelligente Härtung Ihrer Systeme und Prozesse.
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Schützen Sie Ihre Existenz

Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie stark Ihr Unternehmen gefährdet ist oder wie Sie die Lücke zwischen Prozessmanagement, Cybersicherheit und Notfallkonzepten schließen können, dann lassen Sie uns gemeinsam prüfen, ob Ihre Dokumentation dem Ernstfall standhält - bevor es zu spät ist.
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